Blick von der Seite auf die Halle mit Block 1 und 2 des ehemaligen AKW.
(Foto: J. Müter / n-tv.de)
So oft wie nötig, aber so selten wie möglich besuchte Rosmarie Poldrack das ehemalige DDR-Vorzeige-AKW Lubmin. Die Ärztin war maßgeblich daran beteiligt, dass der Meiler kurz nach der Wende abgeschaltet wurde. Heute sorgt sie sich vor allem, dass die Stadt an der Ostsee zur Zersäge-Stätte für verstrahlten Müll wird. Warum, erzählt sie n-tv.de im Interview.
n-tv.de: Sie haben dafür gesorgt, dass erstmals in Deutschland ein Atomkraftwerk abgeschaltet wurde. Ein gutes Gefühl?
Rosmarie Poldrack: Das war ich ja nicht allein, für das Abschalten gab es viele Gründe. Im Auftrag des Zentralen Runden Tisches in Berlin wurde eine Kommission eingesetzt, die sich mit den Atomkraftwerken der DDR beschäftigte, mit Rheinsberg und Lubmin. Das zweite war, dass im Februar 1990 die Internationale Atomenergie-Behörde IAEA eine Störfallanalyse gemacht hat. Und schließlich gab es 1990 ein weiteres Gutachten der Gesellschaft für Reaktorsicherheit. Der Runde Tisch kam zu dem Ergebnis, dass es vor allem beim Brandschutz große Sicherheitsmängel gab. Die Reaktorsicherheitskommission befand, dass Nachrüstungen dringend erforderlich waren. Die Störfallanalyse befasste sich mit Zwischenfällen der letzten Jahre und dem Störfall von 1975.
Was war denn das für ein Störfall 1975?
Da ist ein Werkzeug in einen Verteilerkasten gefallen und hat einen Brand ausgelöst. In der Folge waren Kühlkreisläufe unterbrochen. Nur durch viel Glück ist die Notpumpe nicht ausgefallen. In der Störfallanalyse der IAEA ist der Zwischenfall nicht sehr hoch eingestuft worden. Er hätte aber schwerwiegendere Folgen haben können.
Rosmarie Poldrack ist Ärztin und Mitglied des Kernenergiebeirats der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern.
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Warum wurde Lubmin 1990 nicht nachgerüstet?
Die großen Energieunternehmen hätten Lubmin natürlich gern genommen, aber nur unter der Voraussetzung, dass es nach bundesdeutschem Gesetz eine sichere Genehmigung gehabt hätte. Das war durch die verschiedenen Gutachten völlig infrage gestellt. Nachrüsten hat sich damals offenbar nicht gelohnt, daher haben die Konzerne sehr bald abgewunken.
Block 2 und 3 waren schon im Februar abgeschaltet worden, der Block 4 im Juni und Block 1 im Dezember. Block 5 hatte im Herbst 1989 einen Störfall. Ende November ging der Block in Revision und danach nie wieder ans Netz. Wir hatten damals auch eine Klage gegen Block 5 laufen. Im Baugeschehen waren 50.000 Änderungen daran vorgenommen worden, die nicht vollständig dokumentiert waren. Anfang 1991 wurde dann ein gesamter Baustopp verhängt, der auch die Blöcke 6, 7 und 8 betraf.
Seit wann waren Sie hier in Greifswald gegen das Kernkraftwerk engagiert?
Im Frühjahr 1989 gehörte ich zu fünf Ärztinnen und Ärzten, die sich zusammentaten. Bis dahin war das AKW ja ein völliges Tabu-Thema. Wenn es überhaupt in den Medien der DDR auftauchte, dann als Vorzeigeobjekt. In gewisser Weise war es das auch: Wer dort gearbeitet hat, der war privilegiert, der hatte bessere finanzielle Konditionen, der hatte sehr viele Vorteile und im Vergleich zu einem normalen sozialistischen Betrieb war es natürlich ungewöhnlich sauber und ordentlich. Das hängt zwar mit der Art der Technologie zusammen, führte aber dazu, dass es immer als ein positives Beispiel dargestellt wurde.
Im Herbst 1989 versuchten wir, den kleinen Kreis zu öffnen. Das lief dann vor allem über das Neue Forum. Ende November 1989 haben wir die erste öffentliche kritische Veranstaltung zum AKW gemacht. Das war zu einer Zeit, in der wir selbst noch nicht viel wussten. Wir hatten das große Glück, dass es im AKW ein paar wenige, kritische Ingenieure gab, die dann zu uns gestoßen sind. Dafür bin ich noch heute dankbar. Die haben uns die ganze Technik sehr genau erklärt. Das hat uns sehr geholfen, den Offiziellen vom AKW in der Öffentlichkeit gegenübertreten zu können.
Heute ist es kein Kernkraftwerk mehr, sondern ein Zwischenlager. Empfinden Sie das als Sieg? Was für ein Verhältnis haben Sie zu diesem Zwischenlager?
Ein gestörtes Verhältnis!
Aber wenn ein Kernkraftwerk abgebaut wird, braucht man doch ein Zwischenlager.
Ja. Aber schon Anfang der 1990er kamen die ersten klaren Aussagen, dass hier ein bundesdeutsches Zwischenlager gebaut wird. Das wollten wir nicht. Wir konnten akzeptieren, dass Atom-Müll aus Rheinsberg und Lubmin hier in das Zwischenlager kommt. Aber wir wollten verhindern, dass Lubmin zum Zwischenlager für Müll aus der ganzen Bundesrepublik wird.
Ausstellung am ehemaligen Kernkraftwerk: Man versucht Transparenz.
(Foto: J. Müter / n-tv.de)
Aber, abgesehen davon, dass Sie hier wohnen: Ist es nicht egal, in welchem Zwischenlager der Müll liegt?
Wir betreiben eine Technologie, von der wir wissen, dass sie ein Pulverfass ist. Und das in einer Zeit, in der wir in der modernen Welt völlig neue Formen von Terroranschlägen haben. Dieser Müll muss über Jahrzehnte, teilweise Jahrhunderte und Jahrtausende sicher gelagert werden. Diese Garantie kann niemand geben. Klar, ich lebe hier. Ich möchte auch, dass diese Gegend noch ein bisschen länger bewohnbar bleibt. Wir haben immer gesagt, der Müll, der bei uns entstanden ist, der soll hier bleiben. Aber dieses Prinzip soll bitte auch dort gelten, wo jetzt noch Müll produziert wird.
Mit anderen Worten: Sie wollen nicht, dass Lubmin zur Zersäge-Stätte für alle möglichen Atomkraftwerke wird.
So ist es. Bei Atomfragen zieht man sich immer auf eine reine Gesetzmäßigkeit zurück: Der Betreiber hat ein Recht, etwas zu betreiben, weil er eine Genehmigung hat. Wenn er nachgewiesen hat, dass er zuverlässig ist, kann er beliebig Erweiterungen beantragen und muss sie bekommen. So geht das immer weiter. Aber es gibt eben auch eine moralische Seite.
Das Zwischenlager ist ja schon ganz gut gefüllt.
Die Großkomponenten, die dort stehen, sollen nach einer gewissen Abklingzeit verarbeitet werden. Das ist die Philosophie des Ganzen. Ein Teil wird in die Container gehen, ein Teil wird aber auch in den Stoffkreislauf zurückgeführt. Beim hochradioaktiven Müll ist es so, dass die Castoren, die im Lager stehen, dort bleiben, bis es ein Endlager gibt. In der Castor-Halle, in Halle 8, gibt es 80 Stellplätze, die ans Überwachungssystem angeschlossen sind. Die Halle ist aber für 120 Stellplätze gebaut. Bei 40 Plätzen gibt es zwar kein Überwachungssystem, aber das kann nachgerüstet werden. Dann hätten wir hier noch mal 40 Plätze . Man kann ja mit Atommüll auch Geld verdienen …
Wenn die EWN sich auf Rheinsberg und Lubmin beschränkt, würde sich der Betrieb schon wieder selbst abwickeln, denn irgendwann ist dort ja die letzte Turbine zersägt.
Atommüll-Fässer im Zwischenlager Lubmin: Für Poldrack ist über Folgen der Strahlung zu wenig bekannt.
(Foto: J. Müter / n-tv.de)
Die EWN will weitere Aufträge akquirieren, sie sind jetzt die Fachleute für den Rückbau von Atomkraftwerken, helfen etwa in Russland dabei, Atom-U-Boote zu entsorgen.
Dann sollen sie an die Standorte gehen, wo sie gebraucht werden. Dagegen habe ich nichts. Aber im Moment lässt sich die EWN den Müll liefern, um ihn hier zu verarbeiten. Bisher ist es noch so, dass der Müll irgendwann zurückgehen muss. Aber in ihrer Philosophie ist schon der Plan angelegt, dass der Müll irgendwann einfach hier bleibt.
Die Kosten für den Rückbau von Lubmin und Rheinsberg sind ziemlich gestiegen. Wie erklärt sich das?
Ich glaube, man kann solche Kosten gar nicht kalkulieren. Damals hat man einfach eine Hausnummer genannt, um das beschlussfähig zu machen. Anfang der 1990er Jahre, als man anfing, über den Abbau zu diskutieren, wusste man nicht, wie stark die Betonteile verstrahlt sind. Auch die Frage, was konditioniert werden kann, was zum normalen Beton-Abfall oder zum Schrott-Abfall gegeben werden kann, konnte nur geschätzt werden.
Trotz Laufzeitverlängerung ist ja absehbar, dass über kurz oder lang auch in Westdeutschland die Atomkraftwerke abgeschaltet werden. Gibt es etwas, das wir vom Rückbau in Lubmin gelernt haben?
Die Hauptfragen, die wir uns stellen müssen, lauten: Wie wollen wir mit der Frage des Endlagers umgehen? Wird es ein Endlager geben? Wenn ja, wo und wann? Bis dahin haben wir die dezentralen Zwischenlager an den einzelnen Standorten. Das Zwischenlager Lubmin ist für noch 30 Jahre ausgelegt. Welche Reparaturmöglichkeiten gibt es dort? Der Betreiber sagt, die eigentliche Sicherheit ist der Castor-Behälter. Aber was ist, wenn die Zwischenlagerung über den geplanten Zeitraum hinausgeht? Den Castor öffnen und umladen, das kann man nur in einem Abklingbecken. Das gibt es aber hier nicht. Im Zweifelsfall müsste man einen defekten Castor-Behälter auf die Bahn schaffen und ihn irgendwo hinbringen, wo man ihn öffnen kann. Das halte ich für sehr zweifelhaft.
Ist die Atomfrage noch immer ein Riss, der durch Greifswald geht?
Nicht mehr. Nach der Wende habe ich Anrufe gekriegt mit Morddrohungen gegen meine Kinder. Ich habe vier Kinder, die waren damals noch relativ klein. Das war nicht gut. Wenn wir Info-Stände auf der Straße gemacht haben , sind wir lautstark beschimpft und beleidigt worden. Das ist heute nicht mehr so, das ist harmlos geworden. Das liegt einfach auch daran, dass die Entlassungen schon so lange her sind. Heute gibt es viele Leute, denen das Thema egal ist. Die haben andere Sorgen.
Waren Sie schon im Zwischenlager und in der Werkstatt, in der die Konditionierung läuft?
Mit welchem Gefühl gehen Sie da durch? Haben Sie Angst, Ihrer Gesundheit zu schaden?
Schwierige Frage. Ich bin nur so oft reingegangen, wie ich musste, um die Anlage zu verstehen. Aus Jux an der Freude jedenfalls nicht. Unter Medizinern ist bis heute umstritten, ab wann Niedrigstrahlung gefährlich wird. Wir wissen einfach nicht, wie der Körper auf Strahlung reagiert. Was man dort bei einem Besuch an Strahlung abbekommt, liegt im Kleinstbereich. Ich gehe davon aus, dass dieser- hoffentlich - keinerlei Wirkung hat. Da ist eine Röntgenstrahlung beim Arzt sicher viel problematischer. Entscheidend aber sind die Summe und die Art der Aufnahme.
Wenn ich Strahlungspartikel über die Nahrung aufnehme und wieder ausscheide, ist das weniger problematisch, als wenn ich belastete Teilchen einatme und die sich in der Lunge festsetzen.
Was ist mit den Leuten, die da arbeiten?
Wir wissen, dass es Strahlenschäden bei Kindern gibt, deren Väter in der Wiederaufbereitung gearbeitet haben - entsprechende Untersuchungen wurden in der britischen Wiederaufbereitungsanlage Sellafield gemacht. Offenbar waren die Erbanlagen der Arbeiter verändert worden. Das kann eine Folge von Niedrigstrahlung gewesen sein. Die Arbeiter in Lubmin werden alle regelmäßig untersucht. Wir wissen auf diesem Gebiet aber einfach noch nicht alles. Und zwar auch nicht, ob unsere Grenzwerte die richtigen sind. Deshalb ist das Arbeiten dort nicht ungefährlich.
Mit Rosmarie Poldrack sprachen Hubertus Volmer und Jochen Müter